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1992 - 2024
32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

Die knöcherne Harfe
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
16.05.08     A+ | a-
Es gibt Erzählungen des Grauens, in denen der wahre Schrecken sich gnädig hinter einer Art Ersatzgeschichte verbirgt, die den Zuhörer die eigene Fantasie gebrauchen und ihn selber bestimmen lässt, wie viel er aushalten will. Eine solche Geschichte erzählte uns vor Jahren Virgilio Bareiro, einer der Langzeithäftlinge der Stroessner - Diktatur: Virgilio war in der falschen Partei und damit Staatsfeind in einem Gewaltregime, das seine Feinde gnadenlos jagte, seine unbequemen Kritiker generell unter „Kommunismusverdacht“ stellte und bekämpfte  -  zur Freude des „großen Bruders“ im Norden. Bareiro verbrachte endlose Jahre in einer Art Erdloch, der Hitze, der Kälte und Feuchtigkeit schutzlos ausgesetzt.

Er war einer der „persönlichen Gefangenen“ Stroessners, nicht einmal wert, in einem auch noch so schäbigen Raum zu vegetieren. Erst als der Hass des Diktators ein wenig nachließ, tauchte der Häftling auf aus seiner Hölle, und es folgten weitere endlose Jahre in „normaler“ Gefangenschaft. Um diese zu kennzeichnen, reicht ein Blick auf die spezielle, fantasievolle Terminologie der Folter im Paraguay jener Jahre. „Badewanne“, „Fötus“, „Sarg“, „Zigarre“ oder „Pferdchen“: Was da bei jedem einzelnen an Vorstellungen auch auftauchen mag angesichts dieses quasifolkloristischen Vokabulars  -  es bleibt vermutlich hinter der Realität zurück. Die verzehrenden  Erinnerungen an seine Familie, die längst nur noch in seinen Träumen und seiner Sehnsucht existiert, sind für Bareiro oft noch schlimmer als sein Hunger oder sein Schmerz. Vor allem quälen ihn die Gedanken an seine Tochter, die er verzweifelt liebt, und die bald ihren in Paraguay so wichtigen fünfzehnten Geburtstag feiern wird.

Da fällt ihm eines Tages ein großer Rinderknochen in die Hände, und dieser abgenagte Knochen regt seine väterliche Fantasie an: Daraus ließe sich doch vielleicht eine Harfe basteln für die Tochter, ein Instrument, das sie so sehr liebt.Der Gedanke lässt ihn nicht mehr los. Er versteckt sein Werkstück, und immer wenn er, unentdeckt von den Wachen, „arbeiten“ kann, schabt, sägt und feilt er  -  ebenso ängstlich wie akribisch  -  an dem Knochen herum. Sein Arbeitsgerät muss er sich unter den rigiden Haftbedingungen mühsam besorgen und improvisieren: Alte Zahnbürsten, Reste von Dosen, das wichtigste „Werkzeug“ freilich ist der raue Zellenboden. Es gilt, äußerst vorsichtig zu sein, er hat nur dieses eine Stück, wie schnell ist das Werk missraten, wie leicht kann er entdeckt werden!

Langsam, in Tagen und Wochen angespannter Arbeit, verwandelt sich der Knochen. Virgilio Bareiro hat in der Haft nicht seine Geschicklichkeit und Geduld eingebüßt, und endlich hat das Werkstück die gewünschte Gestalt angenommen. Später sagt mir Bareiro: „Diese acht Monate Arbeit an dem mir bald heiligen Knochen waren die einzig einigermaßen erträglichen in den langen Haftjahren.“

Wenn man das kleine, filigrane Schmuckinstrument sieht, es berührt, kann man kaum begreifen, wie es unter den Händen des Häftlings Bareiro entstehen konnte, und eigentlich bleibt nur die Erklärung übrig, dass es die Kraft der Liebe des Vaters zu seiner Tochter gewesen sein muss, der es seine Fertigstellung verdankt. Als Bareiro schon eine verschwörerische Methode weiß, wie er das kostbare Geschenk seiner Tochter zukommen lassen kann, ertappt ihn ein besonders verhasster Aufseher genau in dem Moment, in dem er seine Knochenharfe verpackt. Und hält sie schon bald in seiner Faust. Tiefster Schrecken erfasst ihn, fast noch größer als in den Momenten, wenn man ihn zur Folter rief! Flehend erzählt der Häftling dem Schergen, für wen und für welchen Anlass erarbeitet wurde, was der da achtlos und allzu unvorsichtig umklammert.

Der aber begutachtet jetzt dieses wundersame kleine Instrument mit einem für ihn ganz ungewöhnlichen Erstaunen.Gleichwohl wartet der gepeinigte Vater nur darauf, dass der Aufseher seine Harfe auf dem Boden zertrümmern wird, der aber  nimmt sie einfach mit und sagte beim Herausgehen: „Die wird auch meinem Liebchen gefallen ....“ Später berichtet Virgilio: “Ich kann keinen untröstlicheren Moment in meinem Leben erinnern als diesen einen! Monate der heimlichen Arbeit umsonst! Und vor allem, ich konnte nun meiner Tochter nicht die Freude machen, die ja auch meine größte Freude war!“

Aber es passierte ein Wunder: Einige Tage später, als er von einem Verhör zurück gebracht wurde, fand Virgilio seine Harfe unversehrt in der Zelle. Das Instrument war dem Kerkerchef in die Hände gefallen und hatte ihm imponiert. Manchmal durften die Häftlinge Schachfiguren basteln, und da hatte also dieser Bareiro, der ihm als Geschicktester bekannt war, eine Harfe angefertigt. Sollte er sie doch behalten. Überglücklich findet Bareiro noch rechtzeitig einen Weg, seiner Tochter das kleine Instrument zu ihrem fünfzehnten Geburtstag zukommen zu lassen. Hat es je ein wertvolleres Geschenk gegeben?

Dieser Bericht von Stroessners persönlichem Häftling Virgilio Bareiro  hat mich damals und bis heute mehr berührt als alle Folterszenen, welche gleichwohl in ihr anklingen  -  wie durch ihre aus Zahnbürstenmaterial mühsam geflochtenen roten Saiten.

"Wie Tausende anderer Geschichten kommt sie im Abschlussbericht der Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission nicht vor."
Deshalb habe ich sie hier erzählt.

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